Ein Aufenthalt in Triest und Duino hat den Autor Markus Waldvogel zu poetischen Gedanken und Bildern angeregt. Sein Buch «Zingara Triste» im Bieler Verlag «die brotsuppe» funkelt.
Das Schiff liegt im Hafen von Triest, nennt sich «Zingara Trieste», ein Bezug zur Stadt an der Adria und zum Bathyscaph von August Piccard, der 1953 erstmals mit der «Trieste», einem Tiefseeboot, tauchte. Ein Tau nun verdeckt den ersten «e» von «Zingara Trieste», der Zigeunerin der Stadt und des Wassers, daraus wird folglich die «traurige Zigeunerin». «Zingara Triste» ist ein Bändchen mit einer Fülle von Texten und Fotos von Markus Waldvogel, lange Jahre Gymnasiallehrer in Biel, mehrfacher Autor und Mitbegründer der Bieler Philosophietage. Er hatte bei seinem Besuch in Triest und Duino an der Adriaküste das Auge für solche Details wie dem verborgenen Buchstaben, die für ihn nicht nebensächlich waren, sondern seine Gedanken in Bewegung setzten – weit über Triest hinaus.
Waldvogel ist ein unaufdringlicher, feinsinniger Beobachter. Seine gedanklichen Streifzüge umkreisen Worte, Wolken, Wasser, Wellen und Wind, Himmel und Herbst, Sonne und Sterne, Natur und Nacht, Liebe, Leid und Lust, Menschen und Mentalitäten. Er bringt die Dinge auf den Punkt, legt im Leser selbst vielleicht längst Verschüttetes, ins Unterbewusstsein Abgetauchtes wieder frei. Die Kurz- und Kürzestgedichte sind stets verblüffend, stimmen nachdenklich, kennen das Düstere, Ernste, aber «Zingara Triste» erlaubt auch mal ein Schmunzeln.
Verbaler Amok und Igelstacheln
Facebook und Twitter verursachen sogenannte Shitstorms. Im Netz mit Worten verletzen, verbal Amok laufen: Das ist die heutige Realität. Es wäre der geschriebenen Miniatur von Waldvogel zu gönnen, würde sie weitherum gelesen: «Man kann alles zur Sprache bringen / Sie kennt keine Moral.» Ja: Es ist der Mensch, der aus ihr ein segensreiches Werkzeug machen muss.
Waldvogel weiss auch herauszufordern: «Stadionsgesänge sind rhythmische Wahrheiten / der Freudlosigkeit.» Damit sind Fussballfans garantiert nicht einverstanden, aber ein gutes Buch lebt auch vom Widerspruch. Den erreicht es nur durch Zuspitzungen. Wie sagt der Autor selbst? «Ein Gedicht ist wie ein Igel / Es braucht Stacheln.» Wehrhafte Worte zur rechten Zeit bekommen eine Kraft der Eindringlichkeit. Sie unterscheiden sich von jenen, deren Ziel allein darin liegt, zu zerstören und niederzureissen.
Ein Dreizeiler erhält durch die topaktuelle Lage eine bestimmte Richtung, was zweifellos so sein darf: «Fremde Wörter drängen / durch verlassene Grenzposten / und legen Spuren im gelobten Land.» Es ist, was all die aus ihren Ländern geflohenen Männer, Frauen und Kinder in ihren Sprachen, die für unsere Ohren fremd klingen, erhoffen: offene Grenzen und weite Herzen, um im gelobten Land, in Europa, neue Spuren zu legen.
Unter der Sternenkuppel
Unfassbares, Unermessliches hat der Mensch über sich und in sich, er ist ein Abbild des Kosmos mit unerforschten Stellen in der Seele. «Überm Dom die Sternenkaskade / In mir die Ahnung eines Traumes / wie vor einer verschlossenen Kammer.» Und während Friedrich Dürrenmatt in seinem Gedicht «Siriusbegleiter» durch das nahe Ende eines Sterndiamanten an die eigenen Begrenzungen erinnert wird, spürt Waldvogel beim Anblick eines solchen den leisen Wunsch nach einer ewigen Fortsetzung von Raum und Zeit für alle und alles: «Der Diamant / eines Sterns / ritzt / an der Unendlichkeit / als klopfte er für mich / an eine Tür.» Manchmal aber geht es darum, das Beste aus dem ständigen Kreislauf auf diesem Planeten zu machen: «Späte Schwimmer im Herbst / verstossen den Sommer und küssen sich.»
Wer küsst, ist nicht – mundtot. Mundtot darf auch eine Zivilgesellschaft als Ganzes nie werden: «Wenn die Bürger schweigen / verliert die Philosophie ihr Hinterland.» Der Philosoph Markus Waldvogel weiss, wovon er spricht.
Info: Markus Waldvogel, «Zingara Triste», gebunden, 88 Seiten, Verlag Die Brotsuppe, 2015, www.brotsuppe.ch